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Die Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung" in nicht-westlichen Kulturen: Eine Fehldiagnose? Autorin: Birgit Eißner (2011) Abstract Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wurde erstmals 1980 im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders III (DSM III) aufgeführt. Binnen weniger Jahre wurde sie zur „Standarddiagnose, zur „ lingua franca seelischen Leidens“ [1] . Dies gilt auch für den Kontext der Entwicklungshilfe. Aus medizinethnologischer Perspektive gibt es jedoch viele Einwände gegen die Übertragung psychologischer und psychiatrischer Diagnosen aus einem kulturellen Kontext in einen anderen. In diesem Artikel soll aufgezeigt werden, dass sich die westlich-medizinischen Diagnosekriterien nicht dazu eignen, seelische Erkrankungen bei Menschen aus anderen Kulturen sicher zu erkennen. Auch soll hinterfragt werden, ob die von internationalen Hilfsorganisationen angebotenen psychotherapeutischen Behandlungsmethoden die emotionalen Bedürfnisse der Menschen befriedigen können und ob diese einen positiven Effekt auf ihr seelisches Wohlempfinden haben. Abschließend werde ich versuchen auf die Frage, wie man im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) am besten mit den Folgen traumatischer Erfahrungen umgehen kann, mögliche Antworten zu geben. APA American Psychiatrist Association DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders EZ Entwicklungszusammenarbeit ICD-10 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme; hier relevant: Kapitel V, „Psychische und Verhaltensstörungen“ PTBS Posttraumatische Belastungsstörung PTSD Post-Traumatic Stress Disorder NRO Nicht-Regierungsorganisation WHO Weltgesundheitsorganisation Traumatherapeutische Maßnahmen als Kernelement humanitärer Hilfe Während ursprünglich einmal die Programme von Entwicklungshilfeorganisationen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) nahezu ausschließlich darauf ausgerichtet waren, den Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern medizinische Grundversorgung, Technik, sowie das dazugehörige Know-how zur Verfügung zu stellen, präsentieren sich die Programme inzwischen deutlich verändert. Die auffallendste Veränderung hat dabei im Bereich der humanitären Hilfe stattgefunden. Alle Organisationen, seien sie staatlich oder privat, führen inzwischen Projekte zur psychotherapeutischen Betreuung der Opfer von Kriegen und (Natur-) Katastrophen, sowie zur Stärkung und Wiederherstellung des psychosozialen Gleichgewichts von Gemeinschaften im Programm [2] . Dies war bis vor wenigen Jahren nicht der Fall: die psychischen Schäden, die die Überlebenden davontrugen, waren in der EZ bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht thematisiert worden, oder sie waren bestenfalls von sekundärem Interesse [3] . —Woran liegt es, dass sich Projekte mit psychologischen Inhalten binnen weniger Jahren von „nicht existierend“ zu einer festen Größe in der humanitären Hilfe entwickelt haben? Dafür gibt es mehrere Gründe. Genannt wird einerseits die Zunahme der durch Naturkatastrophen ausgelösten humanitären Notsituationen. Beispiele für hierfür sind die verheerenden Folgen tropischer Wirbelstürme (wie Hurricanes und Taifune), extremer Dürren, sowie Fluten. Nicht zuletzt verursachten die Erdbeben und Tsunamis der letzten Jahre in der Karibik, Südamerika und Asien ein bis dahin für unvorstellbar gehaltenes Ausmaß an menschlichem Leid und Elend. Westliche Hilfsorganisationen reagierten darauf verstärkt mit der Bereitstellung umfassender psychologischer Hilfe. Sogenannte „psychologische Erste Hilfe-Maßnahmen“ wie die Methode des Debriefing sind dabei genauso selbstverständlich wie die daran anschließende psychotherapeutische Betreuung der Betroffenen in mittel- und langfristigen Programmen. Es verwundert inzwischen niemanden mehr, dass nach jedem Unglück — sei es der Tsunami in Südostasien im Dezember 2004, das Drama um die Minenarbeiter in Chile, oder das Erdbeben in Haiti —binnen kürzester Zeit eine ganze Armada an Trauma-Experten in Erscheinung tritt [4] . Schwerwiegender noch für die Zunahme psychotherapeutischer Projekte in Bereich der Entwicklungszusammenarbeit wiegt die Veränderung der weltpolitischen Situation seit Anfang der 1990er Jahre. Das Ende des Kalten Krieges führte zwar zu einer Abnahme zwischenstaatlicher Konflikte — dem gegenüber steht jedoch eine massive Zunahme an innerstaatlichen Konflikten wie Bürgerkriegen, Sezessionskriegen oder religiösen Kriegen [5] . Auch der Charakter dieser Kriege unterscheidet sich deutlich von denen „herkömmlicher“ bewaffneter Konflikte [6] . Es stehen sich nicht mehr die Soldaten zweier verfeindeter Länder gegenüber, sondern oft liegt eine ständig veränderliche, und daher schwer überschaubare, Gemengelage an unterschiedlichen militärischen und paramilitärischen Akteuren vor. Des Weiteren finden Kriege nicht mehr nur in Grenzgebieten statt, sondern häufig im Land selbst und gehen mitten durch die Bevölkerung — die Schäden in der Gesellschaft sind massiv. Auch werden Kriege zunehmend häufiger systematisch gegen die Zivilbevölkerung geführt. Die systematische Vergewaltigung von Frauen, die Verfolgung und Ermordung ethnischer Minderheiten und die Rekrutierung von Kindern als Soldaten sind hierfür bittere Belege [7] . Die Maßnahme der Traumabearbeitung gilt insbesondere hier, in diesen komplexen Nachkriegssituationen, „als hoffnungsvolles Instrument, um zu einer friedlichen gesellschaftlichen Transformation beizutragen […] und ist daher zu einem zentralen Bestandteil diverser EZ-Programme geworden“ [8] . Umso frustrierender ist es, dass Erfolge oft ausbleiben. Es stellt sich daher die Frage nach möglichen Gründen. Aufbauend auf der Tatsache, dass allen psychotherapeutischen Maßnahmen die Annahme zugrunde liegt, dass eine PTBS vorliegt, möchte ich im Folgenden argumentieren, dass sowohl die Diagnose PTBS, als auch die Methoden zu ihrer Behandlung zu speziell westlich sind, um Menschen aus anderen kulturellen Kontexten bei der Bewältigung ihres Leidens eine Hilfe darstellen zu können. Die Entstehung der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ Um die Entstehung und Verbreitung des Trauma-Konzeptes und der PTBS zu verstehen, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass wir es hierbei mit einem historisch betrachtet neuem Krankheitsphänomen zu tun haben. Bis vor ca. 130 Jahren waren in Europa seelische und körperliche Erkrankungen infolge eines erschütternden Erlebnisses so gut wie unbekannt, bzw. wurden nicht als Krankheit wahrgenommen. Auch waren, als um 1870 herum in Europa die ersten Berichte über solche rätselhaften Erkrankungen auftauchten, die Symptome andere als die heute definierten. Grundsätzlich bedurfte es damals der Entstehung eines gesellschaftlichen Verständnisses dafür, dass als schrecklich empfundene Ereignisse nachhaltend schädigende seelische Folgen hervorrufen können, die als Symptome einer Krankheit zu bewerten sind. Tatsächlich war es unter Fachleuten in Europa und den USA bis 1980 höchst umstritten, ob die vielfach beobachteten Folgereaktionen auf beispielsweise Kriegserlebnisse tatsächlich eine „echte“ Krankheit beschrieben. Erstmals waren diese Symptome bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext von Industrieunfällen dokumentiert worden. Es gab zunehmend mehr Berichte über Arbeiter, die nach solchen Unfällen zwar von ihren körperlichen Verletzungen genesen waren, aber dennoch eine Reihe von körperlichen Symptomen wie bspw. Lähmungen und Zittern entwickelten, die sie dauerhaft arbeitsunfähig machten. Diese rätselhaften Symptome wurden ursprünglich als „Hysterie“ klassifiziert, aber es dauerte nicht lange bis sie, in Anerkennung eines traumatischen Erlebnisses als Auslöser der Krankheit, in „Traumatische Neurose“ umbenannt wurden. Dass diese Krankheit ausgerechnet dann bei immer mehr Arbeitern auftrat, als ein neues Arbeitsrecht in Kraft trat, das Rente bei Arbeitsunfähigkeit in Aussicht stellte, machte die Situation nicht einfacher — weder für die Betroffenen selbst, noch für die Ärzte. So stand von Anfang an zur Debatte, ob nicht gerade die Aussicht auf mögliche finanzielle Kompensationen das Simulieren von Arbeitsunfähigkeit für die Arbeiter attraktiv machte [9] . Der Ruch des Simulantentums war daher von Anfang an untrennbar verbunden mit der „Traumatischen Neurose“ und haftete auch noch während des Ersten und Zweiten Weltkrieges Soldaten an, die aufgrund ihrer Kriegserfahrungen traumatisiert, und somit kampfunfähig geworden waren [10] . Der Anstoß zur Neuinterpretation kam schließlich aus den USA. Dort führte die massenhafte Erkrankung von Vietnam-Veteranen zu einer allmählichen Umdeutung der Erkrankung. Reizbarkeit, Unruhe, Alpträume, überhöhte Wachsamkeit (Hypervigilanz), wiederkehrende belastende Erinnerungen an das schreckliche Ereignis ( intrusive flashbacks ), sowie viele weitere Symptome mehr hatten zur Folge, dass etliche Veteranen nach ihrer Rückkehr vom Krieg nicht mehr am normalen Alltagsleben teilnehmen konnten. Dass diese Symptome inzwischen nicht mehr vorrangig mit dem Stigma der Feigheit oder des Simulantentums behaftet waren, sondern zunehmend als „echte“ Krankheit akzeptiert wurden, hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte sich der gesellschaftliche Kontext seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich verändert. Das Verständnis seelischer Krankheiten war inzwischen weithin durch die Theorien der Psychoanalyse geprägt, wonach seelisches Leiden infolge von Traumata als ernstzunehmende, aber auch behandelbare Erkrankung beschrieben wurde. Zum anderen spielten politische und moralische Diskurse wie die Ablehnung des Vietnam-Krieges in den USA eine zentrale Rolle bei der Neubewertung psychischer Erkrankungen, die infolge schrecklicher Erfahrungen auftraten [11] . Die schiere Zahl der an den oben genannten Symptomen leidenden Veteranen war eine nicht zu leugnende gesellschaftliche Realität geworden. Statt solche Soldaten wie früher unter den Generalverdacht des Simulantentums zu stellen, wurde ihr seelisches Leiden nun als typische, wenn nicht gar unvermeidliche Krankheit infolge von Kriegserfahrungen betrachtet und daher als Argument gegen den Krieg verwendet. So wurde schließlich nach langjährigen Debatten 1980 die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ in die dritte Auflage des Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders , DSM III, aufgenommen [12] . Aus einer umstrittenen und stigmatisierten Klassifizierung traumatisierter Menschen als „Hysteriker“ oder „Simulanten“ war schließlich eine offiziell anerkannte Krankheit geworden [13] . Weil die Symptome der PTBS nicht nur in den USA, sondern auch in Europa dokumentiert waren, ging man wie selbstverständlich davon aus, dass die PTBS auch in anderen Teilen der Welt existiere. Hinzu kam die Überzeugung, dass die der Psychologie und Psychiatrie zugrunde liegenden Modelle der menschlichen Seele, ihrer Erkrankungen, sowie der Methoden zu ihrer Heilung universal gültige Gesetzmäßigkeiten beschrieben. Dass die PTBS in anderen, nicht-westlichen Kulturen nicht dokumentiert war, wurde mit dem dortigen Mangel an medizinischem und psychologischem Fachwissen erklärt. So gesehen bedurfte es in diesen Ländern lediglich der Ausbildung von Fachpersonal nach westlich-medizinischen Maßstäben, bis die Menschen dort selbst in der Lage sein würden, seelische Erkrankungen „korrekt“ zu diagnostizieren und zu behandeln. Es war nach der offiziellen Anerkennung der PTBS als Krankheit im Jahr 1980 daher nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch im Kontext humanitärer Hilfe in Erscheinung treten würde. Dies geschah 1994, als die Weltgesundheitsorganisation WHO die PTBS erstmals in ihrem Katalog zur Erfassung seelischer Krankheiten, ICD-10, aufführte. Dass die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ inzwischen gerade im Kontext der Entwicklungshilfe zur „Standarddiagnose, zur lingua franca seelischen Leidens“ geworden ist, erscheint in Anbetracht der Tatsache, dass Kriege, Verfolgung, sexualisierte Gewalt sowie Naturkatastrophen als besonders traumatisierende Erfahrungen gelten, nur logisch [14] . Theoretische Positionen bezüglich der Universalisierung des Traumas im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit Dennoch ist die universale Verwendung dieser Diagnose, und vor allen Dingen die Behandlungsmethode der Gesprächstherapie zur Heilung einer PTBS, unter Fachleuten keineswegs unstrittig. Traditionell existieren im Themenbereich „Trauma“ und „Kultur“ zwei Positionen: Während von Seiten der transkulturellen Psychiatrie der Standpunkt vertreten wird, dass eine kulturübergreifende, universale Erfahrung von „Trauma“ nicht existiere, behaupten die Anhänger der universalistischen Position das Gegenteil: „Schilderungen von Überlebenden sind immer Schilderungen des universalen Trauma-Archetypus“ [15] . Ungeachtet der fortdauernden theoretischen Debatten setzte sich letztere Position aufgrund der oben erwähnten Anerkennung der PTBS als Krankheit und ihrer Aufnahme in das internationale Klassifikationssystem ICD-10 weltweit durch. Dies hatte zur Folge, dass auch die bei uns üblichen psychotherapeutischen Methoden zur Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen weltweit zum Einsatz kamen [16] . Psychotherapeutischer und Psychosozialer Ansatz Der allerdings unbefriedigende Verlauf vieler psychotherapeutischer Projekte führt derzeit zu einer erneuten Problematisierung von Kultur, Trauma und Therapie [17] . Ein besonders eindringliches Beispiel für das Misslingen solcher Projekte ist aus Sierra Leone dokumentiert. Als ehemalige Kindersoldaten dort gefragt wurden, was ihre vordringlichsten Wünsche seien, nannten sie: Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten, und wirtschaftliche Sicherheit für sich und ihre Familien. Trotz dieser eindeutigen Aussagen wurden von den westlichen Hilfsorganisationen aber Trauma-Programme angeboten. Die tatsächlich geäußerten Bedürfnisse der Kinder wurden also schlicht ignoriert und stattdessen Programme angeboten, die der im Westen verbreiteten Überzeugung einer zwangsläufig vorhandenen Traumatisierung und therapeutischen Behandlungsbedürftigkeit von ehemaligen Kindersoldaten entsprachen. Es überrascht nicht, dass die Behandlungsangebote von den ehemaligen Kindersoldaten nicht angenommen wurden. Die Interventionen scheiterten also, weil sie nicht auf die explizit geäußerten Bedürfnisse und Prioritäten der Kinder reagierten, zu deren Unterstützung sie doch eigentlich konstruiert waren [18] . Ebenso wenig überrascht bei einer solchen Blindheit und Taubheit für die tatsächlichen Bedürfnisse die harsche Kritik an solchen Programmen: “[…]westliche therapeutische Methoden [werden für] unangemessen gehalten, nutzlos in den besten Fällen, Schaden anrichtend in den meisten anderen Fällen” [19] . Ein weiterer, häufig genannter Kritikpunkt ist der, dass psychotherapeutische Maßnahmen auf das Individuum fokussieren, während in vielen anderen Kulturen jedoch das Kollektiv die Grundlage für Wohlbefinden oder Unwohlbefinden ihrer einzelnen Mitglieder bildet. Damit es einem Individuum gut geht, muss es also der Gemeinschaft gut gehen. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde der psychosoziale Ansatz entwickelt. In ihm soll der Bedeutung der Gemeinschaft durch die Durchführung sogenannter community programmes Rechnung getragen werden, welche die Stärkung bzw. Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichtes einer Gemeinschaft zur Aufgabe haben. Zudem wird gleichzeitig versucht, kultursensible Hilfsangebote zu machen, indem Elemente traditioneller Überzeugungen und Denkweisen in die Programme integriert werden. Eine Schwäche des psychosozialen Ansatzes liegt darin begründet, dass sein Konzept nicht hinreichend definiert ist. Wie nun tatsächlich die in einer Gemeinschaft gelebte „Kultur“ sich in konkrete Handlungsanweisungen innerhalb der Programme übersetzen soll, bleibt unklar. Ein Versuch besteht beispielsweise darin, die heilende Kraft lokaler Rituale zu nutzen. Der Glaube an die heilenden Eigenschaften von Ritualen ist im Westen weit verbreitet; wie jedoch schon Whyte hervorhob, besteht aber die Gefahr, dass ihrer Rolle hinsichtlich der Eigenschaft, Probleme zu lösen, überschätzt wird [20] . Auch werden Heilungsrituale traditionellerweise nicht zur „Behandlung“ ganzer Bevölkerungsgruppen (wie die der Kindersoldaten) durchgeführt. Insgesamt besteht nach Einschätzung Kleinmans die „Gefahr der Romantik in der Medizin: traditionelle Heilungsmechanismen werden nicht zu besseren Ergebnissen führen“ [21] . Tatsächlich zeigte sich, dass sowohl Heilungsrituale, als auch andere, nicht-rituelle kultureigene Mechanismen wie die traditionellen Schlichtungsgerichte gachacas aus Ruanda nicht automatisch dazu geeignet sind, die dort vorhandenen Probleme zu lösen. Das liegt daran, dass solche Schlichtungsmechanismen lediglich zur Lösung von Streitigkeiten auf viel kleinerer Ebene, beispielsweise der Dorfebene, eingesetzt werden. Der Aspekt der Maßstäblichkeit war also hinsichtlich so gravierender Probleme wie die in Ruanda durch den Völkermord entstandenen beim Versuch der Übertragung von Schlichtungsmechanismen außer Acht gelassen worden. Ein weiterer Kritikpunkt ist der, dass in der EZ viele Projekte als „psychosozial“ bezeichnet werden, die das Attribut „kultursensibel“ lediglich in dekorativer Weise verwenden. So kritisiert Eyber, dass manche Therapiesitzungen für Flüchtlinge als kulturangemessen („culturally appropriate“) angepriesen werden, obwohl sie lediglich mit einem Gebet oder einem Lied eröffnen [22] . Aufgrund der mangelnden inhaltlich-konzeptuellen Schärfe des psychosozialen Ansatzes und des Mangels an klaren Handlungsanleitungen werden daher letztlich doch wieder die Methoden der Psychotherapie umgesetzt (Löchelt 2010). Insgesamt besteht beim psychosozialen Ansatz also die Gefahr der Überschätzung und Romantisierung traditioneller Bewältigungsmechanismen [23] . Überdies erscheint er wie ein Trojanisches Pferd: äußerlich präsentiert er sich als kultursensibel und als gemeinschaftsorientiert, in seinem Inneren transportiert er jedoch weiterhin westliche, psychotherapeutische Methoden. Der medizinethnologische Ansatz Die WHO weist schon lange auf die Gefahr hin, dass im Entwicklungshilfekontext hinsichtlich von Diagnosen seelischer Krankheiten ein hohes Risiko von Fehldiagnosen besteht. Insbesondere kritisiert sie die unter Hilfsorganisationen verbreitete, reflexartige Diagnosestellung „PTBS“ nach Katastrophen: „Ein Problem, das die WHO beschäftigte, waren Programme, die ausschließlich auf die PTBS fokussierten, [und] von der die WHO glaubt, dass sie fälschlicherweise für die weitverbreitetste seelische Erkrankung nach einem Unglück gehalten wird. Sie warnte andere Hilfsorganisationen davor, keine wertvolle Zeit mit dem Aufbau von PTBS-fokussierten Angeboten zu verschwenden […] [24] , [25] . Damit unterstützt die WHO den medizinethnologischen Standpunkt, demzufolge die postulierte Universalität der PTBS, und infolgedessen auch die Behandlungsmethode der Psychotherapie, im nicht-westlichen Kontext grundsätzlich für problematisch gehalten werden. In der Ethnomedizin ist bekannt, dass weltweit je eigene Systeme zum Klassifizieren, Diagnostizieren und Heilen von Krankheiten —seien sie nun körperlich oder seelisch bedingt— existieren. Die westliche Nosologie ist nur eine von vielen kulturspezifischen medizinischen Krankheitslehren, die weltweit existieren. Sie wird in der Ethnomedizin daher nicht als Metasystem zur Klassifizierung von Krankheiten verwendet. Diese Unterscheidung mag auf Anhieb irrelevant erscheinen. Sie hat jedoch weitreichende Folgen, wenn es um die Diagnose und Behandlung seelischer Krankheiten geht. Denn während die westlich-medizinischen Diagnose- und Behandlungsmethoden hinsichtlich körperlicher Erkrankungen fraglos weltweit funktionieren, darf daraus jedoch nicht gefolgert werden, dies auch auf den Bereich seelischer Leiden und Erkrankungen zutrifft. Das liegt daran, dass seelische Erkrankungen immer in ein System von Bedeutungen eingebettet sind, das je nach Kultur und Weltanschauung sehr unterschiedlich ist. Die westliche Herangehensweise an „Trauma“ trennt das Trauma jedoch von diesen kulturellen Bedeutungssystemen von Leid. Indem das „Trauma“ wie eine eigenständige, von kulturellen Diskursen unabhängige Entität behandelt wird, entsteht eine Blindheit gegenüber den Bedeutungen, die Leiden in einer jeweiligen Gesellschaft hat. Diese Blindheit besteht nicht nur gegenüber nicht-westlichen Diskursen von „Leiden“, sondern auch gegenüber der westlichen Kultur. Es mangelt Westlern gleichermaßen wie nicht-Westlern, die eine westlich-wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben, grundlegend an der reflexiven Einsicht, dass selbstverständlich auch der westliche Trauma-Diskurs in ein System von westlichen kulturellen Bedeutungen eingebettet ist. Das gilt allgemeiner noch für alle Diskurse über seelische Krankheiten. Summerfield betont: „Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der westliche Diskurs seelischer Krankheiten zentrale Elemente der westlichen Kultur einführt, einschließlich einer Theorie über die menschliche Natur [und] eine Definition von „Person“ […]. Nichts davon ist universal“ [26] . Ein Beispiel mag diese Aussage veranschaulichen. Gilt in westlichen Kulturen die Depression als ernstzunehmende seelische Erkrankung, so wurde sie in Japan bis vor wenigen Jahren als ein Wesenszug verstanden, der hoch geschätzte charakterliche Eigenschaften wie Tiefsinn und Stärke anzeigt [27] . Indem in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Japan jedoch systematisch das westliche Verständnis von Depression als einer behandlungsbedürftigen Krankheit eingeführt wurde, wurde dieser Gemütsverfassung eine neue, pathologisierende Bedeutung oktroyiert — mit der Folge, dass die Depression in Japan inzwischen eine regelrechte Volkskrankheit ist [28] . Durch die Einführung des westlichen Verständnisses von „seelischer Krankheit“, hier der Depression, wurde also auch gleichzeitig ein neues Konzept über die menschliche Natur in Japan eingeführt. Ob den „Depressiven“ in Japan, die sich seither als „seelisch kranke Personen“ statt als besonders tiefsinnige Menschen verstehen, mit diesem neuen Selbst-Verständnis gedient ist, ist zu bezweifeln. Ein immer wieder vorgebrachtes Argument für die universale Gültigkeit der westlichen Nosologie auch hinsichtlich seelischer Krankheiten ist, diese seien fraglos universal auftretende Erkrankungen, da ihre Existenz ja wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Dieses Argument ist gleichzeitig richtig und falsch. Richtig ist es insofern, als die Existenz z.B. der PTBS tatsächlich wissenschaftlich nachgewiesen und durch empirische Daten belegt ist. Dies gilt jedoch nur für den westlichen Kontext. Der Fehler dieser Argumentation liegt daher in der Verwechslung von Deduktion und Induktion: es wurde nicht etwa aus universaler (allgemeiner) Beobachtung von stressbedingten Erkrankungen eine allgemeine Theorie der kulturell unterschiedlichen (speziellen) Manifestationen von Stress abgeleitet, sondern tatsächlich wurde eine lokale (spezielle) Manifestation von Stress beobachtet (PTBS) und dann als universal postuliert. Betrachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung aus medizinethnologischer Perspektive Seelisches Leiden drückt sich also je na